Essay im FAZ-Feuilleton zum 75. Geburtstag von Peter Glotz

Ohne ihn sind wir dümmer

Er war der Antispießer, der Ideengeber der Republik

Essay im FAZ-Feuilleton zum 75. Geburtstag von Peter Glotz ( 7. März 2014)

Eine „Sahelzone“ habe die Ära Kohl auf kulturellem Gebiet hinterlassen, bilanzierte Michael Naumann 1998 als erster Kulturstaatsminister unter Kanzler Schröder. Viel Freundlicheres ließe sich heute auch über das geistige Terrain der Sozialdemokratie achteinhalb Jahre nach dem Tod ihres letzten großen Intellektuellen Peter Glotz kaum sagen. Denn noch nie haben Politiker der Sozialdemokratie derart ungeniert ihre Kulturferne zur Schau gestellt und Schwimmbäder und Sportplätze gegen Museen und Opernhäuser in Stellung gebracht. Während die neue Favoritin Hannelore Kraft im NRW-Wahlkampf 2012 mit der Parole „Currywurst ist SPD“ reussieren konnte, redet Peter Feldmann, Oberbürgermeister in Hilmar Hoffmanns einstiger Vorzeigemetropole Frankfurt am Main, wieder klassenkämpferisch von „Hochkultur“ und bekundet , am liebsten mit dem Picknickkoffer in die Oper gehen zu wollen.

Hinzu kommt die begriffliche Armut. Mit dem Ladenhüter vom „Politikwechsel“ wird ein epochaler Bogen angetäuscht, obwohl am Ende doch nur die keynesianische Gießkanne geschwungen wird. Für Peter Glotz waren es schon immer die langweiligsten Gesichter, die am lautesten Visionen und Utopien einforderten. Nicht zu vergessen das institutionelle Elend. Die Grundwertekommission regredierte zur Eppler-Andacht gegen den Neoliberalismus. Und das vom Bundesgeschäftsführer Glotz einst ins Leben gerufene Kulturforum beim Parteivorstand hat bis heute den zu seinen Ehren vom Präsidium beschlossenen Intellektuellen-Kongress wacker verhindert.

Peter Glotz musste den Beginn dieser rückläufigen Entwicklung an eigenem Leibe erfahren. In seinem letzten Bundestagswahlkampf 1994 untersagten ihm seine Parteifreunde in der bayerischen Diaspora öffentliche Streitgespräche mit Gregor Gysi und Republikaner-Chef Franz Schönhuber: “Statt die Gegner zu widerlegen, will man sie wegdrücken, totschweigen, ausschmieren (…) Mit wem hätte ich eigentlich debattieren dürfen, wenn ich mich an diese Verbote gehalten hätte? (…) Sogar die Diskussion mit Heiner Geißler hat man mir irgendwann untersagen wollen“, schreibt er in seiner bitteren Bilanz „Jahre der Verdrossenheit“.

Schon in den Jahren schien er darüber verzweifelt, in seiner Partei kaum noch eine gehaltvolle Debatte anstoßen zu können. Unvergessen, wie er als Chefredakteur der „Frankfurter Hefte“ bei mir, seinem Redakteur, ein Interview mit dem Christdemokraten Karl Lamers, dem „karolingischen“ „Kerneuropa“-Visionär, bestellt hatte. Doch das Konzept eines „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ mit einem deutsch-französischen Nucleus, wie es auch Glotz vorschwebte, schmeckte den europäischen Spitzengenossen nicht. Erbarmungslos verstopften sie die Debatte mit unverdaulichen Referententexten. Schließlich setzte es noch einen Ordnungsruf von Johannes Rau, Genosse Glotz habe auf dem Europa-Ressort von Heidi Wieczorek-Zeul gewildert, obwohl er doch im Schattenkabinett Rudolf Scharpings für die Wissenschaft zuständig gewesen sei. Schluss der Debatte.

Umgekehrt langweilte den gern nach vorn preschenden Fortschrittgeist die schale intellektuelle Erwartung aus den eigenen Reihen, pausenlos innehaltende Selbstverständigungsdiskurse aufziehen zu sollen mit dem sattsam bekannten Fragelamento „Wofür stehen wir eigentlich noch?“, „Was bleibt vom Sozialismus?“ oder „Was ist heute noch links?“, die letztlich nur auf die Beschwörung alter Leitformeln hinausliefen. Mit seiner feinen Witterung für untergründige tektonische Verschiebungen reizte es ihn mehr, neue Theorien zu erkunden, Zukunftsthemen zu erschließen, verschollene Begriffe von neuem zu entdecken oder sich mit Vertretern der konservativen Intelligenz wie Hans Maier, Rüdiger Altmann oder Alexander Gauland zu messen.

Als umtriebiger Moderator auf zahllosen Podien spürte er rasch, dass der klassische Parteiintellektuelle mit seinem häufig imperialen Gestus, wie er gerade von ihm repräsentiert wurde, nicht mehr in eine Zeit passte, da eine linke kritische Öffentlichkeit in Nischen und Netzwerke zerfallen war, Spin-doctors und „Alphajournalisten“ die Themen setzten und Parteiprogramme ihre frühere Doppelfunktion aus Wandlungssymbolik nach außen und Binnenkonsens eingebüßt hatten.

Vor allem ging die tiefgreifende Rollenveränderung des Intellektuellen in der digitalen Mediengesellschaft mit einem Aura-Verlust einher. Ihm sei die Kraft abhanden gekommen, noch einen Focus zu bilden, konstatierte einmal Jürgen Habermas, das neue elektronische Zeitalter habe gleichsam die Bühne für den Auftritt von Intellektuellen verkleinert, wenn nicht gar zerstört. Insofern sollte uns der Auftritt Bernard-Henri Levys 2011 wie aus einer längst vergangenen Zeit erscheinen, im Elysee vorzufahren, um seinen Präsidenten zur Intervention in Libyen zu bewegen. Glotz hätte die Pose sicher gefallen, wiewohl ihm das moralische Ansinnen des „Königs von Paris“ Übelkeit bereitet hätte.

Seinen Abschied von der Bonner Bühne 1996 begründete er mit der Unlust, fürderhin nicht länger seine Abende in schlecht belüfteten Hinterzimmern jugoslawischer Vorortlokale bei seinen Genossen verbringen zu wollen. Der Frühaufsteher und Vielschreiber vergaß nicht hinzuzufügen, dass er Dank seiner publizistischen Möglichkeiten ohnehin mehr bewirken könne als sich auf Endlossitzungen in Bundestagsausschüssen die Zeit tot zu schlagen.

Vom Tanker ins Getümmel. Er schaffte den Sprung vom konzeptionellen Parteimenschen zum Tester von Themen, Devianzen und Toleranzen in einer Grauzone zwischen Politik, Politikberatung, Beobachtung und Unterhaltung. Und er kehrte zu seinen erfolgreichen Anfängen zurück. Als Grenzgänger zwischen Politik und Wissenschaft war ein akademischer Pionier, ob als Medienwissenschaftler, Berliner Wissenschaftssenator oder nach seinem Politik-Ausstieg als Uni-Gründer in Erfurt.

Anfang der 1980er Jahre nach der „bleiernen Zeit“ Helmut Schmidts war Peter Glotz als Kampagnenfreak in der SPD noch höchst willkommen. Damals sollte er mit einer Parole aus den 1930er Jahren Generationen von Genossen den Kopf verdrehen. Den „Kampf um die kulturelle Hegemonie“ hatte der neugierige Aufschnapper beim KPI-Denker Antonio Gramsci entdeckt. Der Topos nährte seine Attraktivität aus dem fragwürdigen Versprechen einer möglichen Beherrschbarkeit von öffentlicher Meinung. Daraus erwuchs die falsche Erwartung domestizierbarer Debatten, kurzum: die Verwechslung von Kampagne mit Diskurs. Als Glotz in seinen letzten Erinnerungen „Von Heimat zu Heimat“ erkannte, welche schräge Eigendynamik dieser losgelassene Begriff unter sozialdemokratischen Kulturarbeitern ausgelöst hatte, musste er offen zugeben, dass ihm der Gramsci-Rekurs doch wohl ein wenig „zu pompös“ geraten war. Doch der Apparat hielt bis heute eisern an dieser verlockenden Machteroberungsillusion fest.

Auch wenn der klassische Parteiintellektuelle eine Figur von gestern scheint, geblieben ist die Sehnsucht nach Deutungen und Außenansichten, nach Analytikern der Lage oder dem, was Habermas als „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“ hervorgehoben hat. Und wenn sie beschworen wird, taucht meist zuerst sein Name auf. Peter Glotz wird vermisst, aber nicht von der SPD, sondern von Freunden eines anspruchsvollen und spannenden politischen Streits um die Linien der Politik.

Das letzte Telefonat führte ich als Redakteur der „Frankfurter Hefte“ mit meinem todsterbenskrank in einer Zürcher Klinik darniederliegenden Chefredakteur im August 2005 , auf dem Sprung ins Konrad-Adenauer-Haus zur Präsentation des Schattenkabinetts von Angela Merkel. Mühsam ist er über ein zweites Handy zu erreichen: “Merkel stellt gleich Norbert Lammert als ihren Kandidaten für das Amt des Kulturstaatsministers vor. Was hältst Du von ihm?“ – „Er ist ein sehr vernünftiger Mann. Unsere sind nicht besser.“ „Du bleibst doch?“, beschwor ich ihn am Ende des Gesprächs, die Chefredaktion bei den „Frankfurter Heften“ trotz seines hoffnungslosen Gesundheitszustands nicht aufzugeben. „Ja, ich bleibe“, beschwichtigte er, „solange ich lebe“. Das waren noch acht Tage.

(Der Autor war von 1989 bis 2005 unter Peter Glotz Leitender Redakteur der „Frankfurter Hefte“.)